Stellungnahme Meike Hahnraths
Jeder sollte seinem Urteil misstrauen, wenn er darin ein persönliches Motiv entdeckt. Dafür bleibt im Alltag aber oft zu wenig Zeit. Ein permanent kritisches Bewusstsein für das eigene Schubladendenken wach zu halten, ist schwierig. Deshalb liegt der Fokus des Projektes darauf.
In der Ausstellung zeigt ein Fünftel der Bilder Frauen, die in einem Frauenhaus Zuflucht suchen mussten und alle Portraits zeigen Menschen mit Behinderung: Die eine Häfte hat es schriftlich, die andere Hälfte ist sich dessen vielleicht nicht bewusst und definiert sich als 'normal'. Aber was heißt das schon: Niemand weiß alles, kann alles, funktioniert fehlerfrei. Jeder Mensch auf dieser Welt wird und ist somit durch etwas eingeschränkt. Aber eben nicht nur - Menschen sind vielschichtig angelegt und immer mehr, als nur das eine.
Es ist mir deshalb bei meiner Arbeit besonders wichtig, die unbehinderten, einwandfreien Facetten zu zeigen. Die, von denen so viele glauben, sie seien bei benachteiligten Menschen nicht oder nicht mehr vorhanden: Unversehrtheit und Stärke. Aber auch die einzigartige Schönheit eines Menschen, die ich natürlich subjektiv wahrnehme, will ich abbilden. Dazu nutze ich meine Vorstellungskraft, Licht, Stoffe, Kleidung, Accessoires, Kamera und Rechner wie der Maler Leinwand, Farbe, Pinsel und Spachtel.
Kunst darf Spaß machen: Darum ist die Schubladen-Ausstellung interaktiv. Zu jedem Portrait gibt es vier kurze Beschreibungen, aber nur eine davon trifft zu. Wer in der Ausstellung also seinen ausgefüllten Fragebogen abgibt oder auf der Webseite quizzt, erfährt, wie hoch die eigene Trefferquote ist. Wobei es meiner Meinung nach hier nie um gute Ergebnisse geht, sondern um die Auseinandersetzung mit dem Thema.
Dieses Auswählen der vermeintlich richtigen Beschreibungen kann durchaus zu einer spannenden Angelegenheit werden. Viele Besucher tun das im Dialog anderen Besuchern, mit der Familie, mit Freunden, Kollegen oder Schülern!
Mittlerweile ist das Schubladen-Projekt an vielen Orten gewesen und hat tausende Menschen erreicht. Bei Instagram und besonders auf facebook gibt es eine quirlige und aktive Community, die jedes hochgeladene Portrait kommentiert. Ein ganz besonders spannendes Bonbon für die Fotografierten: "Wie werden die Leute mich wohl einschätzen?"
Viele interessante und schöne Ausstellungsorte stehen auf dem Programm oder sind in der Planung: ein Schloss, eine Kirche, eine Gesamtschule, Museen.
Auch inklusive Workshops sind aus diesem Projekt entstanden, die unter dem Namen 'Inklusion macht schön!' ab 2018 dafür sorgen, dass auch eingeschränkte Menschen die Schublade, in die sie gesteckt werden, aktiv und positiv mitgestalten lernen.